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tin, »ich habe soeben nach dem Bürgermeister geschickt.
Denken Sie sich, es ist eine arme, unglückliche Frau, die
gestern abend zu Fuß hier angekommen ist; sie kommt
aus Spanien und ist ohne Paß und ohne Geld. Sie trug auf
ihrem Rücken ein sterbendes kleines Kind. Ich konnte
nicht umhin, sie hier aufzunehmen. Heute früh habe ich
selbst nach ihr gesehen; denn gestern, als sie hier anlang-
te, hat sie mir schrecklich leid getan. Die arme kleine
Frau. Sie lag da mit ihrem Kind, und beide kämpften mit
dem Tode ... Sie zog einen goldenen Ring von ihrem
Finger und sagte zu mir: : Madame, ich besitze nur noch
dies, nehmen Sie ihn als Zahlung; es wird genügen, mein
Aufenthalt hier wird kein langer sein. Armes Kind, wir
werden zusammen sterben9 , hat sie gesagt, indem sie ihr
Kind ansah. Ich nahm ihren Ring und fragte, wer sie sei.
Aber sie wollte mir ihren Namen beileibe nicht sagen ...
Ich habe nun eben nach dem Arzt und dem Bürgermeister
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geschickt.« »Lassen Sie ihr alle Hilfe angedeihen, die
nötig ist«, sagte hierauf die Marquise; »mein Gott, viel-
leicht ist sie noch zu retten. Ich werde Ihnen alle ihre
Auslagen bezahlen.« »Ach, Madame, sie scheint mir
ganz schön stolz zu sein, und ich weiß nicht, ob sie es
zulassen wird.« »Ich will sie sehen ...«
Und sogleich begab sich die Marquise zu der Unbekann-
ten, ohne daran zu denken, daß ihr Anblick sie trug
noch Trauerkleider diese Frau, die, wie es hieß, im
Sterben lag, in einem solchen Augenblick schmerzen
könnte. Die Marquise erbleichte beim Anblick der Ster-
benden. Trotz der entsetzlichen Leiden, die das schöne
Gesicht Hélènes verwandelt hatten, erkannte sie ihre äl-
teste Tochter.
Als Hélène eine schwarzgekleidete Frau eintreten sah,
richtete sie sich auf, stieß einen Schrei des Entsetzens
aus, als sie in dieser Frau ihre Mutter erkannte, und sank
langsam in ihr Bett zurück. »Meine Tochter«, sagte Ma-
dame d'Aiglemont, »was fehlt dir? Pauline! ... Moina! ...«
»Mir fehlt nichts mehr«, erwiderte Hélène mit schwa-
cher Stimme; »ich hoffte meinen Vater wiederzusehen,
aber Ihre Trauer verkündet mir...« Sie vollendete nicht.
Sie drückte ihr Kind an ihre Brust, als wolle sie es er-
wärmen, küßte es auf die Stirn und heftete auf ihre Mut-
ter einen Blick, der noch nicht frei von Vorwurf, wenn
auch durch Verzeihung gemildert war. Die Marquise
wollte diesen Vorwurf nicht sehen; sie vergaß, daß Hélè-
ne ein Kind war, das sie ehemals in Tränen und Ver-
zweiflung empfangen hatte, das Kind der Pflicht, ein
Kind, das die Ursache ihrer schwersten Kümmernisse
gewesen war. Sie näherte sich sanft ihrer ältesten Toch-
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ter, einzig in dem Gefühl, daß Hélène die erste gewesen,
die ihr die Süße der Mutterschaft zu kosten gegeben hat-
te. Die Augen der Mutter standen voll Tränen, sie küßte
ihre Tochter und rief: »Hélène, mein Kind! ...« Hélène
schwieg. Sie hatte soeben den letzten Seufzer ihres letz-
ten Kindes aufgefangen.
In diesem Augenblick traten Moina, Pauline, ihre Kam-
merzofe, die Wirtin und ein Arzt ins Zimmer. Die Mar-
quise hielt die eiskalte Hand ihrer Tochter in der ihren
und sah sie mit aufrichtiger Verzweiflung an. Außer sich
vor Schmerz, sie war gerade einem Schiffbruch entgan-
gen, aus dem sie von ihrer ganzen prächtigen Familie nur
ein einziges Kind gerettet hatte, sagte die Witwe des
Korsaren mit schrecklicher Stimme zu ihrer Mutter: »All
dies ist Ihr Werk! Wenn Sie für mich gewesen wären,
was ...« »Moina, geh hinaus, geht alle hinaus!« schrie
Madame d'Aiglemont laut, um Hélènes Stimme zu über-
tönen. »Ich flehe dich an, liebe Tochter, erneuern wir
nicht in diesem Augenblick die traurigen Kämpfe ...«
»Ich werde schweigen«, gab Hélène mit übermenschli-
cher Anstrengung zur Antwort; »ich bin Mutter, ich
weiß, daß Moina nicht ... Wo ist mein Kind?« Moina
kam, von Neugierde getrieben, wieder herein. »Liebe
Schwester«, sagte das verwöhnte Kind, »der Arzt...«
»Alles ist nutzlos«, erwiderte Hélène; »ach, warum bin
ich nicht mit sechzehn Jahren gestorben, als ich mir das
Leben nehmen wollte. Es gibt kein Glück außerhalb der
Gesetze ... Moina ... du ...«
Sie starb, den Kopf auf ihr Kind gebeugt, das sie krampf-
haft an sich preßte.
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»Deine Schwester wollte dir jedenfalls sagen, Moina«,
nahm Madame d'Aiglemont das Wort, als sie in ihr Zim-
mer zurückgekehrt war, wo sie in Tränen zerfloß, »daß
das Glück für ein Mädchen niemals in einem romanti-
schen Leben, außerhalb der herkömmlichen Anschauun-
gen und besonders fern von seiner Mutter zu finden ist.«
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6. Das Alter einer schuldigen Mutter
An einem der ersten Junitage des Jahres 1844 erging sich
eine etwa fünfzigjährige Dame, die jedoch noch älter
schien, als es in der Natur ihrer Jahre lag, unter den
Bäumen des Parks, der zu einer in der Rue Plumet in
Paris gelegenen Villa gehörte. Sie war schon zwei- oder
dreimal den leichtgewundenen Fußpfad auf und ab ge-
wandert, den sie nicht verließ, um nicht die Fenster einer
Wohnung aus dem Auge zu verlieren, die ihre ganze
Aufmerksamkeit zu fesseln schien; schließlich ließ sie
sich auf einem der halb ländlichen Stühle nieder, wie sie
aus jungen Baumstämmen, die noch mit ihrer Rinde ü-
berzogen sind, hergestellt werden. Von dem Platz aus,
wo sich dieser elegante Sitz befand, übersah die Dame
durch ein Gartengitter sowohl die innern Boulevards, in
deren Mitte sich der wundervolle Dome des Invalides
erhebt, der mit seiner goldenen Kuppel zwischen den
Kronen eines Ulmenwaldes emporragt, als auch ihren
weniger großartigen Garten, den die graue Fassade eines
der schönsten Häuser des Faubourg Saint-Germain
abschloß. Überall war noch alles still, die benachbarten
Gärten, die Boulevards, der Dom; denn in diesem vor-
nehmen Viertel beginnt der Tag kaum vor zwölf Uhr.
Falls nicht eine besondere Laune eine Ausnahme herbei-
führt, eine junge Dame ausreiten will oder ein alter Dip-
lomat ein Protokoll neu aufzusetzen hat, schläft zu dieser
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Stunde noch alles oder fängt erst an aufzuwachen, Diener
und Herrschaften.
Die alte Dame, die schon so frühzeitig auf war, war die
Marquise d'Aiglemont, die Mutter von Madame de Saint-
Héreen, der dieses prächtige Haus gehörte. Die Marquise
hatte zugunsten ihrer Tochter, der sie ihr ganzes Vermö-
gen geschenkt hatte, auf das Haus verzichtet und für sich
nur eine lebenslängliche Rente zurückbehalten. Comtesse
Moina de Saint-Héreen war das letzte Kind von Madame
d'Aiglemont.
Um ihr die Heirat mit dem Erben eines der erlauchtesten
Hauser Frankreichs zu ermöglichen, hatte die Marquise
alles geopfert. Nichts war natürlicher, sie hatte nachein-
ander zwei Söhne verloren: der eine, Gustave Marquis
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